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Liebestöter

Der Chinese an sich und im Allgemeinen liebt lange Unterhosen.

Wir kennen sie alle aus unserer Kindheit und Schulzeit. Spätestens, wenn der Winter die Landschaft in ein weißes Kleid gehüllt hat (ja, damals gab es noch echte Winter mit richtigem Schnee), dann holte Mama die langen Unterhosen raus. Sich zu weigern und morgens in den reinen Widerstand zu treten, brachte riesiges Geschrei, und letztlich wurde unter Tränen Zwang angewendet.

Okay, solange man keinen Sportunterricht am selben Tag hatte, würde es ja niemand bemerken. Gestorben wäre man vor Scham, wenn man sich im Umkleideraum mit langen Unterhosen hätte zeigen müssen. Spätestens, als es nicht mehr üblich war, dass Mutter einen anzog, war das mit den langen Unterhosen erst einmal erledigt. Sie gelten allerdings ungebrochen als absolut unsexy. Man braucht sie jetzt nur noch im Ski-Urlaub und dann als Funktionswäsche.

Mütter in China scheinen nicht anders zu denken. Aber eine Emanzipation findet im Erwachsenenalter nicht statt. Im Unterschied zu uns fühlt der Chinese an sich und im Allgemeinen keinerlei Scham, seine Liebestöter auch offen zuzugeben. Lange Unterhosen sind so normal wie Essstäbchen und der tägliche Stau auf Pekings Straßen. Man verbirgt diese nicht, auch nicht ansatzweise, sondern trägt sie mit Selbstverständlichkeit, Stolz und ohne modischen Geschmack.

Gefragt zu werden, wie viele Hosen man bei diesem kalten Wetter trägt, gehört zum guten Ton. Immerhin ist es draußen ja eiskalt. Auch wenn gerade keine Minusgrade herrschen und kein Schnee liegt, stört das nicht im Geringsten. Der Winter in China dauert in vielen Regionen gefühlt von Anfang August bis Ende Juli. Lange Unterhosen können also, dem kalten Wetter zum Trotz, ganzjährig getragen werden.

Was ganzjährig getragen werden kann, kann also auch ganzjährig gekauft werden. In allen Farben und Variationen. Ungefüttert, gefüttert, wattiert oder alles zusammen. Ja, es gibt sie sogar bedruckt im Look einer Jeans. Der Anblick wird dadurch jedoch nicht immer unbedingt besser. Es ist eine gigantische Industrie, die sich mit der Herstellung und dem Vertrieb von Liebestötern befasst. Bezeichnet werden sie mit dem Namen Qiuku (秋裤, »qiū kù«). In diesem Zusammenhang sollte auch erwähnt werden, dass es wahrscheinlich allein diesem Industriezweig zu verdanken ist, dass sich die Leggins (打底裤, »dǎdǐkù«) zu einem Erfolgsprodukt entwickeln konnten. Warum diese allerdings ausgerechnet diesen Namen (das chinesische Wort setzt sich aus den Schriftzeichen für Schlag-Boden-Hose zusammen) erhalten hat, konnte bisher noch nicht geklärt werden.

Wer in den späten 60ern geboren wurde, der durchlief in Europa eine modische Zeit mit hautengen Streifenhosen. Die Mütter damals sahen dies nicht gerne und warnten ausdrücklich davor. Die zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig entwickelte Männlichkeit hätte keine Möglichkeit zu atmen und die Hitze, die sich durch die enge Kleidung im Schritt anstauen würde, wäre für die zukünftige Familienplanung nicht zuträglich. Den Chinesen an sich und im Allgemeinen scheint dies nicht zu stören. Drei Liebestöter unterschiedlicher Dicke und darüber eine Jeans, lassen selbst die fünf Größen zu groß gekaufte Jeans plötzlich knackig am Hintern aussehen. Nein, da schlabbert nichts.

Das englische Wort »Leggins« kann auch mit »Strampelhosen« übersetzt werden, und in den Augen vieler Erwachsener sind es auch nichts anderes als »Strampelhosen für Erwachsene«. Nun gut, Leggins feiern seit 2006 ein modisch zweifelhaftes Comeback, welches auch am Reich der Mitte nicht vorbeiging. Es scheint der letzte Schrei zu sein, Hotpants oder Minirock über einer langen Unterhose oder einer Leggings im Winter zu tragen. Beides hält die modische Chinesin nicht davon ab, sich dem Fundus der Liebestöter der vergangenen Jahre zu bedienen. Erstaunlich dabei ist jedoch, dass viele dabei noch immer eine eindrucksvoll gute Figur machen. Dies lässt den Umkehrschluss zu, dass in Wirklichkeit die nun wohlgeformten Schenkel nicht stärker sind, als durchschnittliche westeuropäische Unterarme. Peinlich wird es erst dann, wenn Chinas Teenager und Frauen mit einer eher europäischen Körperfülle bei gleichbleibender Größe da mithalten wollen. Gerade in den Städten ist die Zahl der wohlstandsverwöhnten, teuer durch McDonalds geformten und übergewichtigen jungen Frauen (und Männer) enorm gestiegen. Eine regelrechte Industrie hat sich entwickelt, um aus den »jungen Buddhas« wieder Krieger zu formen. Bei den Frauen ist dies nicht so wichtig. Durch die Ein-Kind-Politik gibt es zu wenig Frauen. Mann nimmt, was er bekommt.

Zurück zu den Unterhosen. Unterhosen müssen nicht modisch sein, können es aber. Modische Unterhosen sind allerdings vergleichsweise teuer, weshalb das Modell »Sack« seinen Zweck bestens erfüllt. Dass dieses nicht selten auch aus dem Hosenbein oder dem Hosenbund (oder beidem) schaut und aufgrund des zu erwartenden Bauchumfangs zu groß gekauft über den Gürtel gezogen wurde – all dies sind dabei nur Nebensächlichkeiten.

Zugegeben, auch Touristen oder Auswanderer aus dem Westen sind manchmal in langen Unterhosen anzutreffen. Diese seltenen Erscheinungen trifft man dann jedoch in der Regel im Winter in den nordchinesischen Provinzen Heilongjiang (黑龙江, »hēilóngjiāng«) oder der Inneren Mongolei (內蒙古, »nèiménggǔ«). An warmen Tagen kann dort, im äußersten Norden, die Temperatur auch gerne einmal auf minus 30 Grad fallen. Nachts kommt es zuweilen zu für uns unvorstellbaren Temperaturen von unter minus 40 Grad. Wer dann auch noch in ländlichen Gebieten unterwegs ist, in denen nicht selten die Toilette nur aus einem (selbstverständlich unbeheizten) Bretterverschlag besteht, der freut sich wie ein Schneekönig, wenn er wichtigen Körperteilen nach der Verrichtung der Notdurft wieder einen warmen Platz anbieten kann. In diesen wenigen Ausnahmesituationen würden auch wir drei lange Unterhosen unter einer wasserdichten wattierten Schneehose einer nackt auf den Bauch geschnallten »Miss China« vorziehen.

Wenn man es als Ausländer dem Chinesen gleichtut und auf dem Weg zur Arbeit eine Stunde in der U-Bahn verbringt, kann man entweder über den Chinesen an sich und im Allgemeinen sinnieren, oder man spielt mit sich selber »Ich sehe was, was du nicht siehst«. Dabei errät man die Anzahl der Unterhosen, die die Menschen um einen herum tragen. Von wohlgeformten Körpern oder Körperteilen darf man sich, wie wir ja nun wissen, nicht täuschen lassen. Die Ehefrauen dieser Welt können dabei vollkommen beruhigt sein. Der Grad der männlichen Erregung befindet sich dabei auf einem Tiefpunkt, der der niedrigsten offiziell gemessenen Temperatur entspricht, die jemals in Mohe (漠河, »mòhé«), dem nördlichsten Punkt Chinas, gemessen wurde. Diese lag bei -52,3 Grad Celsius.

Liebestöter sind also nur schwerlich in die Kategorie Reizwäsche einzusortieren. Auch mit traditioneller chinesischer Unterwäsche haben sie nichts gemeinsam. Im Gegenteil. Traditionelle chinesische Unterwäsche für die Frau waren das Moxiong (抹胸, »mǒ xiōng«), das Zhuyao (主腰, »zhǔ yāo«), das Xieyi (亵衣, »xiè yī«) oder das Dudou (肚兜, »dùdōu«). Alle glänzten eher durch einen erheblichen Mangel an Textil und dienten nur dazu, das Notwendigste am Oberkörper zu bedecken, wobei der Rücken, der bekanntlich auch entzücken kann, immer schön frei blieb. Unterwäsche war dabei nicht nur ein Kleidungsstück, sondern auch ein Ausdrucksmittel der eigenen Stimmung. Besonders hervorgehoben hat sich hierbei das Xieyi, eine Unterwäsche im Tunika-Stil aus der Han-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.). Xie (亵, »xiè«) bedeutet im Chinesischen »Frivolität«, »entweihen« und »obszön«. Welchen Zweck das knappe Kleidungsstück neben dem Bedecken der Brüste und der Rippenbögen noch hatte, darauf muss sicherlich nicht detailliert eingegangen werden. Abgesehen vom Moxiong, dessen Namen »Brustgürtel« das Aussehen bereits erahnen lässt, handelt es sich bei den drei anderen um Kleidungsstücke, die China-Touristen gerne mit Babylätzchen verwechseln. Eine wie auch immer geartete Unterhose hat allen nicht öffentlich getragenen Kleidungsstücken gefehlt. Diese kam erst langsam nach der Han-Dynastie in Mode. Auch die Männerwelt hatte hier nicht viel zu bieten. Bis zur Tang-Dynastie (唐朝, »táng cháo«), also bis 618 n. Chr., trug der chinesische Mann nur den Dou Dang Bu (兜裆布, »dōu dāng bù«). Dieser ist vergleichbar mit dem japanischen Fundoshi, einer Art Unterhose, die wir als Kleidungsstück der Sumo-Ringer kennen. Obwohl sich der Chinese gerne damit rühmt, was in seiner Kultur erfunden wurde, die Erfindung des G-String oder String-Tangas durch den Chinesen ist nicht wissenschaftlich belegt.

Wie auch immer. Heute hat sich die lange Unterhose als universelle und nahezu ganzjährige Unterwäsche im Reich der Mitte etabliert. Dass der Name Qiuku wörtlich für »Hosen, die im Herbst getragen werden« steht, wird dabei gänzlich vergessen. Für den Winter und komplett Verweichlichte gibt es zudem noch die Thermo-Unterwäsche (保暖内衣, »bǎonuǎn nèiyī«). Nur ausgesprochen moderne Modefans (时尚达人, »shíshàng dá rén«) lehnen lange Unterhosen ab. Su Mang (苏芒, »sū máng«), Moderedakteurin und angehende Stil-Ikone, verbietet ihren Mitarbeitern sogar das Tragen von langen Unterhosen, selbst im Winter. Mitarbeiter, die »mit« erwischt werden, werden fristlos gekündigt. In ihren Augen beschämen Chinesen, die mit langen Unterhosen nach Europa gehen, sogar ihr Heimatland. Sie trägt selbst im kältesten Winter nur einen Rock. Diese Haltung hat ihr den Spitznamen »Long Johns Mang« (秋裤芒, »qiū kù máng«) eingebracht.

Chinas Großmütter sehen das natürlich anders. Wie in unseren Kindertagen sind auch sie um das Wohlergehen der jüngeren Generation besorgt. Wer keine langen Unterhosen trägt, der wird im Alter Laohantui (老寒腿, »lǎo hán tuǐ«) bekommen. Wörtlich übersetzt sind »alte kalte Beine« und Arthritis gemeint. Auch die Traditionelle Chinesische Medizin rechtfertig die Liebestöter. Nach der Theorie der TCM führt ein Warmhalten der Extremitäten zu einem warmen Körper (下肢暖, 全身益。, »xiàzhī nuǎn, quánshēn yì.«). Es ist daher nicht verwunderlich, dass die TCM »hundert Krankheiten der Kälte« (百病由寒生, »bǎi bìng yóu hán shēng«) kennt.

Nun wird unter dem Begriff TCM eine Heilkunde verstanden, die sich in China seit mehr als 2.000 Jahren entwickelt hat. Grund genug, sich auf die Spurensuche nach der Herkuft der Qiuku, der langen Unterhose, zu machen.

Die Liste der Dinge, die die Chinesen erfunden haben, ist endlos lang. Die lange Unterhose, die im englischen Sprachgebrauch »Long Johns« genannt wird, gehört jedoch nicht dazu. Es war weder ein berühmter chinesischer Arzt noch ein berühmter chinesischer Feldherr. Es waren nicht die nahezu unbesiegbaren Reitervölker aus dem kalten Norden Chinas und es ist auch nicht überliefert, dass Konfuzius jemals etwas über lange Unterhosen gesagt haben soll.

Glaubt man der chinesischen Geschichtsschreibung ab dem Jahr 1945 nach dem Aufkommen einer Diskussion über die Qiuku, dann begann das Zeitalter der langen Unterhosen mit dem »Chinesisch-Sowjetischen Vertrag über Freundschaft und Allianz« (中苏友好同盟条约, »zhōng sū yǒuhǎo tóngméng tiáoyuē«), der am 14. August 1945 in Moskau unterzeichnet wurde. Die damalige Republik China hatte gerade über 1,5 Millionen Quadratkilometer Land in Sibirien und der Mongolei im Rahmen des Zweiten Weltkrieges an die Sowjetunion verloren. Nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahre 1949 versicherte der damalige Premierminister Zhou Enlai (周恩来, »zhōu'ēnlái«) zwar gegenüber der Sowjetunion, keine Ansprüche auf die Gebiete zu erheben, doch diese wollte sich nicht auf eine reine Zusage verlassen. Die von China verlorenen Gebiete waren dünn besiedelt. Stalin sah sich unter einem Damoklesschwert sitzen. Entgegen Damokles wollte Stalin jedoch nicht auf etwas verzichten. Die Bedrohung verschärfte sich noch einmal, als der nach Taiwan geflohene Chiang Kai-shek, der in der Zeit zwischen 1950 und 1975 offiziell eine Politik der Rückeroberung Chinas betrieb, 1951 in den USA die »Wiederherstellung des Festlands« inklusive der verlorenen Gebiete in Sibirien und der Mongolei betonte.

Stalin sah sich mit einem Problem konfrontiert, welches weder mit militärischer Abschreckung noch mit Diplomatie zu lösen war. Die Lösung bahnte sich 1952 an, als der sowjetische Biologe und Agronom Trofim Denissowitsch Lyssenko (特罗菲姆·邓尼索维奇·李森科, »tè luō fēi mǔ·dèng ní suǒ wéi qí·lisēnkē«) an Stalins Bürotüre klopfte. Er verkündete dem Diktator einen genialen Plan: »Lass die Chinesen lange Unterhosen tragen und sie werden die Fähigkeit verlieren, im sowjetischen Osten zu überleben.«

Lyssenko war sich als Biologe sicher, dass es sich mit Menschen nicht anders verhält wie mit Auberginen, Kartoffeln und anderen Feldfrüchten. Über Jahrzehnte entwickeln diese nach seiner Meinung schrittweise genetische Eigenschaften, um in der menschenfeindlichen kalten Region zu überleben. Gewächshauskulturen hingegen haben keinerlei Überlebenschancen, wenn diese dem permafrostähnlichen Boden, den kalten Winden und den langen Wintern ausgesetzt werden. Mit Chinesen sei dies nicht anders. »Gibt man dem chinesischen Volk lange Unterhosen, verlieren diese nach mehreren Generationen die natürliche Winterhärte.« Ziel war es also, die Chinesen zu verweichlichen, sie daran zu hindern, sich gegen die sibirische Kälte abzuhärten, und damit die Besetzung der ehemaligen chinesischen Gebiete durch die Sowjetunion zu konsolidieren.

Stalin muss dem Plan des Biologen zugestimmt haben, denn bereits 1953 konnte Lyssenko den ersten Prototypen aus einem Baumwollmischgewebe »zur Schwächung der Beine« präsentieren. Hergestellt wurden diese in der Wollfabrik der »Tyumen Ölfelder« und im Rahmen des »China Hilfsprojektes Nummer 156« (156援华工程, »156 yuán huá gōngchéng«) an das chinesische Volk übergeben. Die langen Unterhosen sollten (so die offizielle Darlegung) dem chinesischen Volk helfen, »durch richtige Angewohnheiten Erkältungen zu reduzieren und die körperliche Fitness zu steigern.« Die langen Unterhosen waren dabei ein Teil des Projektes »156«, welches China offiziell bei der Umsetzung von 156 großen Industrieprojekten unterstützen sollte. Die ursprüngliche Herkunft der langen Unterhosen erklärt auch, warum ältere Chinesen diese manchmal als Tyumen Maoku (秋明毛裤, »qiūmíng máokù«) und nicht als Qiuku (秋裤, »qiū kù«) bezeichnen. Da die Sowjetunion ihre »Lange-Unterhosen-Politik« nicht nur mit der Volksrepublik China, sondern auch mit Nordkorea betrieben hat, erklärt sich auch die Tatsache, dass nur in diesen beiden Ländern das Tragen von langen Unterhosen selbstverständlich ist.

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Der Chinese an sich und im Allgemeinen - Alltagssinologie
Autor: Jo Schwarz
Preis: 9,95 Euro
Erschienen im Conbook Verlag, 299 Seiten
ISBN 978-3-943176-90-2