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Kehrwoche

Der Chinese an sich und im Allgemeinen kennt keine Kehrwoche.

Die schwäbische Kehrwoche ist eine Erfindung, die auch heute noch in Mietverträgen in Württemberg enthalten ist. Ende des 15. Jahrhunderts, beruhend auf einer Vielzahl von Erlassen in Württemberg erfunden, konnte sich die Kehrwoche nicht einmal im 1806 von Württemberg annektierten Oberschwaben etablieren. Kein Wunder also, dass sich weder die »kleine Kehrwoche«, die das Putzen des Flurs und Treppenhauses zwischen Wohnungen auf einem Stockwerk eines Hauses regelt, noch die »große Kehrwoche«, die festlegt, welche Partei wann den Gehsteig zu fegen und den Winterdienst zu übernehmen hat, außerhalb Württembergs durchsetzen konnte.

Nun kann man zur Kehrwoche stehen wie man mag. Grundsätzlich ist es jedoch nicht unbedingt ein Nachteil, die Menschen zu »Ordnung und Sauberkeit im häuslichen Umfeld« zu erziehen. Auch die Schwaben mussten dies erst lernen. Zwar gab es seit 1492 eine Gassensäuberungsordnung, doch niemand scherte sich darum. Am 12. Januar 1714 erließ Herzog Eberhard Ludwig von Württemberg eine mehr als 30 Punkte umfassende Verordnung, die unter Androhung von einem Gulden Strafe die aus Eigensinn, Faulheit oder »angewohnter Unfläterey« ihrer Pflicht nicht nachkommenden Bürger erzog. Diese wurde am 6. August 1811 noch einmal verschärft. »Es muss jeden Tag, den heiligen Sonntag ausgenommen, vom ersten April bis letzten September, des Morgens von fünf bis sieben Uhr, in den Monaten Oktober bis März aber von acht bis neun Uhr morgens gekehrt werden, bei einem Gulden Strafe. (...) Sollte die Polizei ein außerordentliches Kehren für nötig finden, so hat jeder demselben sich sogleich zu unterziehen.«

Für eine typisch schwäbische Hausfrau ist China sicherlich die Hölle auf Erden. Der Chinese an sich und im Allgemeinen kann absolut nicht als schmutzig bezeichnet werden. Auch der Chinese liebt es, wenn es sauber und behaglich ist. Dies war jedoch nicht immer so. In Meyers Konversationslexikon (4. Auflage, 1885–1892) wird die Stadt Peking ausführlich beschrieben – auch hinsichtlich der Sauberkeit: »Die Straßen gleichen eher einem Bachbett, knietief liegt Schutt und Trümmerwerk aller Art; übel riechender Staub, von jedem Luftzug in dichten Schichten empor gewirbelt und Gesichts- wie Geruchswerkzeuge beleidigend, überdeckt alles.« Etwa zur gleichen Zeit schrieb Elisabeth von Heyking in ihrem Buch Tagebücher aus vier Weltteilen (1886/1904, hrsg. von G. Litzmann, 1926) am 14. August 1896: »Zuerst passierten wir Tungchau, und um durch die entsetzliche Stadt hindurch zukommen, brauchten wir eine Stunde. Wir kamen durch so enge Gässchen, dass die Tragstühle beinah auf beiden Seiten die Häuser streiften, und die Träger versanken im Kot bis an die Waden. Jeder denkbare Schmutz und Abfall liegt auf den Straßen, und darin wälzen sich schwarze Schweine und jeder nur mögliche Gestank steigt zum Himmel. Offene Körbe mit menschlichem Dünger werden durch die Straßen auf die Felder getragen und verpesten die Luft, Menschen, deren Zahllosigkeit immer wieder erstaunt, füllen die Straßen und die offenen Läden und starren die Europäer mit verblüffender Neugierde an.« Auch über Peking schreibt sie an diesem Tag: »Wir kamen nun durch einen besonders schmutzigen und stinkenden Teil der Straße und sahen die große Mauer, welche die Stadt umgibt, und auf der sich von Zeit zu Zeit hohe Türme befinden, deren Dächer mit bunten Kacheln bedeckt sind. Durch einen dieser Türme führte das Tor, durch welches wir unsern Einzug in Peking und zwar in die Tatarenstadt hielten. Wider Erwarten ist diese Stadt wie ein weites leeres Dorf von elenden grauen Häuschen und Hütten; der Weg, wenn von solchem überhaupt gesprochen werden kann, ist noch chaotischer als vorher; bald versinkt man im Kot, bald geht es über große Steinhaufen. Dazwischen sind weite leere Plätze voll stagnierenden Wassers. Der erste Anblick ist so schauerlich hässlich, dass man das Ganze für ein Fieberbild und Alpdrücken hält.«

Heute sind Chinas Metropolen weit von derartigen Zuständen entfernt. Ganz sicher gilt dies für die Metropolen und die Stadtteile, die der normale China-Besucher zu sehen bekommt. Die Definition von sauber ist jedoch eine andere. Auch die Definition, wie weit das eigene Reich im Reich der Mitte reicht, welches durch die eigene Leistung sauber gehalten werden muss, ist eine komplett andere.

Deutschland gilt als ein sauberes Land. Der Ruf der schwäbischen Kehrwoche ist im ganzen Land bekannt. Rund 7.850 Kilometer Luftlinie weiter hat man davon selbstverständlich noch nichts gehört. Es ist sogar davon auszugehen, dass man bei einer genauen Erklärung der Kehrwoche nur Kopfschütteln ernten würde. Immerhin macht man sich ja nur wenige Kilometer abseits der Brezel-Hauptstadt Stuttgart schon darüber lustig. Nachbarn, die peinlichst darauf achten, wie sauber die »Kandel«, also die Abwasserrinne neben der Straße, von anderen gereinigt wird, kennt der Chinese an sich und im Allgemeinen ebenso wenig wie Putzfanatiker, die mit weißen Handschuhen den Sauberkeitsgrad selbst an den unzugänglichsten Stellen überprüfen.

Chinas moderne Metropolen mit ihren gigantischen Trabantenstädten voll Hochhäusern aus Glas und Stahl erwecken zunächst einen trügerischen Eindruck. Aus der Ferne betrachtet sind auch die chinesischen Städte, sofern man sich nicht in den Zentren der Schwerindustrie befindet, wunderschön anzusehen. Näher betrachtet ergibt sich ein ganz anderes Bild. Würde nicht ein Heer aus billigen Arbeitskräften permanent dem wenig umweltbewussten Chinesen hinterherkehren, die Straßen würden in kürzester Zeit im Dreck versinken. Weggeworfen wird alles. Ob Essensreste, Papiertaschentücher, Kartonagen oder Kunststoffabfälle, nur weniges findet den Weg in einen der zahlreichen Mülleimer. In kleinen Dörfern ohne richtige Kanalisation und auf dem Land hofft der Chinese vertrauensvoll auf den nächsten Regen. Dieser wird dann sicherlich das ausgetrocknete Bachbett fluten und den Dreck der Zivilisation in den nächstgrößeren Fluss spülen. Dort, vor den gigantischen Wehren der nicht minder gigantischen Wasserkraftwerke, werden wiederum billige Arbeitskräfte Wiederverwertbares vom tatsächlichen Müll trennen. Dass dies angesichts ebenfalls angeschwemmter Tierkadaver und menschlicher Leichen kein unbedingt erstrebenswerter Beruf ist, kann sich sicher jeder vorstellen.

Wer einmal nachts mit dem Taxi abseits der Hauptstraßen durch Peking gefahren ist, der wird seinen Augen nicht trauen. Die kleinen Müllwagen, die durch die engen Gassen der Hutongs (胡同, »hútong«) gefahren sind, kippen den triefenden Müll einfach auf die Straße, damit dieser mit Schaufeln in einen größeren Müllwagen umgeladen werden kann. Die schwäbische Hausfrau würde sich freuen, wenn sie für den Gehweg von diesem Abschnitt zuständig wäre ...! Immerhin, die Straßen als solches werden in regelmäßigen Zeiträumen von Kehrmaschinen, die den Staub mehr aufwirbeln als einzufangen, heimgesucht. Der Rest (also nahezu alles) wird dann von Tankwagen mit Wasser weggespült.

Doch nicht nur in den Straßen würde die fleißige schwäbische Hausfrau vor einer Lebensaufgabe stehen. Dabei macht ein moderner Neubau aus Glas und Stahl keinen Unterschied zu den Gebäuden, die zur Zeit des Betonbrutalismus der 1960er-Jahre gebaut wurden. Das Treppenhaus gleicht auch nach der Fertigstellung einem Rohbau. »Kudderschaufl ond Kehrwisch« (deutsch: Kehrichtschaufel und Handfeger, chinesisch: 簸箕和扫把, »bòji hé sàobǎ«) der schwäbischen Hausfrau hätten hier bereits nach einem einmaligen Einsatz ihren Dienst substanziell vernichtend erledigt. Das Treppenhaus zu wischen, wäre eine nie endende Dauerbeschäftigung der peniblen Schwäbin. Den Chinesen an sich und im Allgemeinen stört der Anblick eines Hauseingangs und des Treppenhauses nicht sonderlich. Noch ist er nicht in seinem Reich. Hier, im Bereich der Allgemeinheit, kann er zur Not auch noch einmal geräuschvoll den Schnodder, der sich durch die staubige Luft der Stadt in seinen Atemwegen angesammelt hatte, hochziehen und geschickt ausspucken. Dass er dies nicht soll, hat man ihm auch schon einmal gesagt. Aber Angewohnheiten sind nun einmal schwer abzulegen. Dem Chinesen an sich und im Allgemeinen ist der Dreck der Stadt sehr wohl bekannt. Die Zustände straft er aber mit regelmäßiger Missachtung.

Beim Betreten der Wohnung ist plötzlich alles ganz anders. Noch im Türrahmen sind die Schuhe auszuziehen. Als würde er nichts anderes kennen, als wäre Sauberkeit das Erstrebenswerteste, das ein Chinese erreichen könnte, wird kein Krümel mehr das Auge des Besuchers trüben. Hausschuhe, Schuhe zum Duschen. Papiertücher in mehr oder weniger hübschen Behältnissen, damit man auch alles umgehend wegwischen kann, finden sich auf jedem Tisch und jeder Ablage. Elektrogeräte wie Fernseher oder Computer, die gerade nicht genutzt werden, sind farbenfroh gegen Staub geschützt. Fernbedienungen für die Klimaanlage, den Fernseher oder andere Geräte werden in Folien verpackt, damit diese auch bei intensiver Benutzung ihre Farbe nicht von weiß auf dunkelgrau wechseln. Der berufstätige Chinese entwickelt sogar so etwas wie eine Kehrwoche. Einmal pro Woche wird zumindest die eigene Wohnung komplett durchgefegt und durchgewischt.

Wischen, also das Entfernen von Schmutz von einer Oberfläche, eventuell mit einem Lappen und manchmal unter Einbeziehung von Wasser, ist eine Sache für sich. Gewischt wird in China permanent und überall. Ein Blick auf den Wischmopp (拖把, »tuōbǎ«) lässt jedoch auch den abgebrühtesten und noch so resistenten Mann erkennen, dass damit nichts mehr wirklich sauber gewischt werden kann. Weiß war er mal der Mopp, als er in einem der zahlreichen kleinen Shops, die die Straßen säumen, gekauft wurde. Nach nur einem Wischvorgang ist er schwärzer als die dunkelste Nacht. Seinem jungfräulichen Aussehen wird der Mopp nie wieder auch nur annähernd nahe kommen. Das stört die Dame, die den Mopp über die gefliesten Flächen» schubbst«, allerdings nicht sonderlich. Solange es noch den Anschein hat, als könne der Mopp auch wirklich etwas reinigen, ist dieser noch »pfenniggut«.

Der Markt für Desinfektionsmittel ist in China gigantisch. Desinfiziert werden kann alles. Und erfolgt einmal in der Woche der Großputz in der Wohnung, erinnert der Geruch danach eher an ein Krankenhaus als an eine Wohnung. Ein oberflächlich sauberes Aussehen ist jedoch noch lange nicht gleichbedeutend mit einer schwäbischen Tiefenreinigung. Die schwäbische Hausfrau, bewaffnet mit weißen Handschuhen und Ohrstäbchen zur Reinigung der Schlüssellöcher, könnte mindestens noch zwei Tage die rund 100 Quadratmeter große Wohnung putzen. Und da die Welt draußen bekanntlich alles andere als steril ist, werden den Kindern beim Spielen (sofern diese überhaupt in der alles andere als keimfreien Welt außerhalb der Wohnung spielen dürfen) auch permanent die Hände abgewischt.

Gekauft werden die Wohnungen in den Randbezirken von Chinas Städten übrigens nach Modellen und 3-D-Zeichnungen. Zu diesem Zeitpunkt scheint sich der Chinese in ein in Kürze entstehendes Paradies einzukaufen. Bäume säumen das weitläufige Gelände. Die Flächen zwischen den einzelnen Gebäuden der Wohnanlage gleichen wunderschönen Parkanlagen, und mindestens ein kleiner Wasserlauf wird zum Verweilen einladen. Kaum ist er jedoch eingezogen, wird er von der bitteren Realität eingeholt. Ein Blick aus dem Fenster offenbart Bretter, Zement, Bauschutt und anderen Müll, der noch aus der Zeit stammt, in der das Gebäude errichtet wurde. Auch noch Jahre später finden sich diese Überbleibsel moderner Baukunst auf Vorsprüngen und architektonischen Designelementen der einzelnen Stockwerke. Würde es zwischen den Häuserschluchten nicht derartig oft regelrecht stürmen, würde hier noch mehr herumliegen. Von einem parkähnlichen Zustand ist nichts zu erkennen. Einen Bach gibt es natürlich auch nicht. Aber es gibt die Hütten der unzähligen Wanderarbeiter, die die kleinen traditionellen Häuser dem Erdboden gleichmachen, um dann weitere Wohnsilos zu errichten. Hat der Käufer Glück, wird gerade eine U-Bahn-Station nahe seiner Wohnanlage gebaut. Nur dies allein steigert den Wert der Immobilie immens. Aus dem Fenster schauen muss man ja nicht unbedingt.

Der Chinese an sich und im Allgemeinen lebt also auch hygienetechnisch in einer Scheinwelt. Es besteht kein Zweifel daran, dass er zuhause wirklich um die Sauberkeit besorgt ist. Der tägliche Kampf gegen Staub, Dreck, Smog und Landsleute, die der Erfindung des Mülleimers nicht genügend Respekt zollen, wird aber auch der umsichtigste Nachbar auf absehbare Zeit verlieren. Unvorstellbar, was passieren würde, wenn es das Heer an Putzkräften, Straßenfegern und Müllsammlern nicht geben würde. Städte wie Peking oder Shanghai würden sicherlich innerhalb weniger Tage im Dreck versinken. Obwohl China ein extrem gut funktionierendes Recycling-System hat (recycelt wird alles Mögliche und Unmögliche von einer gigantischen Industrie), produzieren die rund 18 Millionen Pekinger tagtäglich rund 20.000 Tonnen nicht recycelbaren Müll, die auf 13 unterschiedlichen Müllkippen landen. Im Sommer werden diese gerne mit Deo-Kanonen beschossen, damit der Gestank nicht in die Stadt dringt.

Auch wenn der Chinese weder die Kehrwoche erfunden, noch diese in seine Kultur aufgenommen hat – er kann sich immerhin als Erfinder des Frühjahrsputzes rühmen. Natürlich gibt es kein chinesisches Wort für Frühjahrsputz, aber einen festen Tag im Frühjahr, an dem das ganze Haus geputzt werden muss (二十四扫房日, »èr shí sì sǎo fāng rì«). Nach dem chinesischen Mondkalender muss dies am 24. Tag des letzten Monats, also kurz vor dem chinesischen Neujahrsfest, welches nach dem gregorianischen Kalender zwischen Ende Januar und Anfang Februar fällt, passieren. Der Ursprung für den »Tag der Reinigung« geht auf die Geschichte von San Shi Shen (三尸神, »sān shī shén«) zurück. Er war ein »Petzer« und Lügner, der dem Jade-Kaiser (玉帝, »yù dì«) sagte, dass sich die Menschen gegen das »Gericht des Himmels« (天庭, »tiāntíng«) auflehnen würden. Daraufhin befahl der Jade-Kaiser dem San Shi Shen, alle Türen der Aufbegehrenden zu markieren, um diese bestrafen zu können. San Shi Shen markierte daraufhin nahezu jede Türe. Der »Küchengott« (灶神, »zàoshén«) fand dies heraus und empfahl den Menschen, das Haus gründlich zu reinigen. Durch die gründliche Reinigung wurden auch die Markierungen entfernt und die Gesandten des Jade-Gottes konnten diese nicht finden.

Im Chinesischen ist die Aussprache für das Wort »Staub« (尘, »chén«) identisch mit der Aussprache für das Wort »ausstellen« oder »zur Schau stellen« (陈, »chén«). Durch die identische Sprachmelodie und durch die Geschichte von San Shi Shen wird dem »Staub fegen« (扫尘, »sǎo chén«) auch die Bedeutung »Unglück wegfegen« (扫陈, »sǎo chén«) zuteil. Mit der Reinigung des Hauses kurz vor dem Frühlingsfest steht dem ganzjährigen Glück also nichts mehr im Wege.

Obwohl viele Traditionen über die Jahre verblasst sind, ist dieser Brauch bis heute in China sichtbar. Zum Gedenken führt der Chinese an sich und im Allgemeinen nicht nur einen Frühjahrsputz durch, sondern dekoriert auch Fenster und Türen jedes Jahr aufs Neue mit Bildern und Scherenschnitten.

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Der Chinese an sich und im Allgemeinen - Alltagssinologie
Autor: Jo Schwarz
Preis: 9,95 Euro
Erschienen im Conbook Verlag, 299 Seiten
ISBN 978-3-943176-90-2