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Ware wahre Liebe

Der Chinese an sich und im Allgemeinen hält wahre Liebe für käuflich.

Nein, wir sprechen nicht von Prostitution und auch nicht von Konkubinen. Die Rede ist davon, den Partner fürs Leben zu finden, eine Familie zu gründen und gemeinsam alt zu werden, irgendwie die normalste Sache der Welt.

In China obliegt dies jedoch nicht den Liebenden und ist zudem der vielleicht größte Wirtschaftszweig in der Volksrepublik. Nach offiziellen Zahlen gibt es in China 180 Millionen Singles. Die tatsächliche Zahl dürfte weit darüber liegen. Hinzu kommen die Männer und Frauen, die sich selbst nicht als Single bezeichnen, da sie eben erst die Universität abgeschlossen haben und deshalb vorher dem Heiratsmarkt noch nicht zur Verfügung standen. Single ist in ihren Augen nur derjenige, der trotz entsprechender Lebensphase niemanden findet. Ebenfalls nicht mitgerechnet sind die Frauen, die es vorziehen, eine Konkubine, genauer eine Geliebte (二奶, »èrnǎi«) zu sein, anstelle der schlecht bezahlten und harten Arbeit am Fließband nachzugehen.

Nein, legal ist es für Männer natürlich nicht, sich eine Zweit- oder gar Drittfrau zu halten. Eine lange Tradition hat das Konkubinat (妾, »qiè«) in China freilich schon. Obwohl es 1949 unter Mao Zedong (毛泽东, »máo zédōng«) in China offiziell abgeschafft wurde, gibt es dank dem Wirtschaftsboom das Konkubinat wieder. Reiche Chinesen aus der neuen Mittel- und Oberschicht leisten sich eine Geliebte und halten diese inklusive Wohnung aus, wie wir bereits im letzten Kapitel gelesen haben.

Die Ehefrau wird natürlich nicht in Kenntnis gesetzt. Die Kollegen schon. Immerhin ist man ein toller Hecht, wenn man es so weit gebracht hat, sich Haus, Auto, Frau und Geliebte leisten zu können.

Kommen wir aber zurück zu den wahren Singles und der Ware Liebe. Einen Mann oder eine Frau zu finden, ist in China alles andere als einfach. Als Student hat man sich auf die Uni zu konzentrieren, und kaum ist man im Arbeitsleben, hat man keine Zeit mehr. Eine Verbindung innerhalb der Firma einzugehen ist tabu. In vielen Firmen ist es sogar verboten. Der Druck der Eltern, nein der ganzen Familie, einen Partner zu finden, wächst jedoch mit jedem Jahr. Spätestens mit 25 ist dann Schluss mit lustig. Mit 25 hat Mann und Frau verheiratet zu sein.

Frauen ab 25, die nicht verheiratet sind, werden sogar als »übriggeblieben« bezeichnet. So gibt es die Frauen zwischen 25 und 27, die man als »primary leftover girls« (剩斗士, »shèng dòushì«) bezeichnet. Denen folgen mit 28 bis 30 Jahren die »intermediate leftover girls« (必剩客, »bì shèng kè«). Zwischen 31 und 35 Jahren folgt der Rang als »advanced leftover girls« (斗战剩佛, »dòu zhàn shèng fú«). Das bittere Schlusslicht bilden dann ab 35 Jahren die »super leftover girls« (齐天大剩, »qí tiān dà shèng«).

Tradition hat es, in den Park zu gehen. Dort hält man Ausschau. Auch Mütter von Söhnen begeben sich in den Park, wenn der eigene Spross noch nicht verehelicht ist. Öffentliche Parks sind also auch ein Marktplatz für »übriggebliebene« Kinder. Man spricht ganz belanglos über die eigenen Kinder, klopft nebenbei ab, wie die finanziellen Verhältnisse und der Bildungsgrad sind, und vereinbart Treffen, bei denen sich auch die Kinder dann ganz zufällig kennenlernen werden ... Ein Horrorszenario für die Mehrzahl der jungen Männer und Frauen.

Der Druck der Familie ist derartig groß, dass sich den jungen Männern und vor allem den jungen Frauen nur zwei Möglichkeiten bieten. Lügen oder Handeln.

Lügen funktioniert nur eine gewisse Zeit. Wohnt Frau weit genug vom Elternhaus entfernt, sieht man sich maximal zum chinesischen Frühlingsfest (春节, »chūnjié«). Bis dahin wird am Telefon gelogen, dass sich die Balken biegen. Zum Frühlingsfest muss dann aber ein Mann vorgezeigt werden. So ist ein Markt von »Mietmännern« entstanden. Frau mietet sich einen Mann zum Vorzeigen. Um dies glaubwürdig zu halten, haben bereits erste Frauen versucht, Babys zu mieten. Immerhin muss ja auch irgendwann Nachwuchs da sein. Ein kompliziertes Unterfangen. Leichter scheint es da, die Initiative zu ergreifen und zu handeln.

Dating-Websites und kommerzielle Kuppler haben Hochkonjunktur. Sie ersetzen heute den oder die traditionelle/n Meipo (媒婆, »méipó«), also den oder die Ehestifter/in. Allein bei der Dating-Website paoxun.com sind Anfang 2014 mehr als 210.000 Heiratswillige eingetragen. Abzocker und Betrüger haben das Geschäft ebenfalls erkannt. Sie versprechen den Mann fürs Leben für viel Geld. Frau zahlt. Spätestens, wenn mehrere Tausend Euro ausgegeben sind, kommt Frau dann zur Erkenntnis, dass sie viel Geld für ein Foto bezahlt hat, welches viele andere Frauen ebenfalls erhalten haben. Einen Mann aus Fleisch und Blut haben sie alle jedoch nie zu Gesicht bekommen. Kommt es wirklich einmal zu einem Treffen, dann hat der Mann der Träume am Flughafen seine Geldbörse verloren oder steckt aus anderen Gründen in enormen, natürlich nur temporären, finanziellen Problemen. Frau kann dann durch ein spendables Aushelfen ihre Liebe zeigen. Ein zweites Mal wird sie den Mann ihrer Träume allerdings nicht mehr sehen.

Da scheint die chinesische Variante des Speed-Datings schon wesentlich effektiver zu sein. Egal ob von den Eltern arrangiert oder selbst initiiert. Mann und Frau treffen sich in irgendeinem Restaurant oder Cafe für einen Faktenaustausch. Zumindest soll es den Anschein haben, dass alles Fakten und Tatsachen sind.

Mann präsentiert sich erfolgreich im Beruf, und selbstverständlich hat er es schon zu einem Auto und zu einer Eigentumswohnung gebracht. Frau hingegen zeigt sich ganz traditionell. Selbstredend hatte sie noch nie Sex und ist daher Jungfrau. Auch sie hat einen hohen Bildungsgrad, der aber genauso selbstredend unter dem des männlichen Gegenübers ist. Sie ist häuslich und sparsam.

Sind für beide die gegenseitig ausgetauschten Lügen auch nur halbwegs akzeptabel, steht einer Hochzeit innerhalb der nächsten 14 Tage nichts im Wege. Sollte es nicht zu einer Hochzeit kommen, liegt es natürlich nur an den Mängeln der Frau. Sie hat dann für das sinnlos ausgegebene Geld beim Treffen aufzukommen. Ist die Ehelichung erfolgreich, spielen auch die Lügen keine Rolle mehr. Er hat eine Frau, die seine Nachkommen sichert. Sie, falls doch sexuell erfahren, lässt ihn im Glauben, ein toller Hecht zu sein, und wird zukünftig diese Form der »Hausarbeit« nur noch sofern unbedingt notwendig erledigen. Einen Mann mit Auto und Haus hat sie ja erfolgreich erworben. Der Preis scheint nicht zu hoch zu sein.

Nun gibt es aber trotz all der zuvor genannten Möglichkeiten und Situationen dennoch auch die Romantiker unter den Chinesen. Zugegeben, es sind eher die Frauen, die romantisch veranlagt sind. Frauen, die sich Männer wünschen, die nicht bei jeder Gelegenheit auf den Boden spucken. Männer, die – ganz Gentleman – auch die Türe aufhalten. Männer, die die Dusche nicht nur vom Hörensagen kennen. Männer, die den Weg vom Auto zum Restaurant nicht als Spaziergang bezeichnen. Diese Frauen haben es in China besonders schwer. Aber es wäre nicht China, wenn es nicht auch hierfür einen Markt geben würde. Die Ware »wahre Liebe« muss an den Mann und an die Frau gebracht werden.

Ein paar wenige Männer haben das Dilemma mit der Romantik und den seltsamen Wünschen nach Reinlichkeit und Fürsorglichkeit erkannt. Diese Männer sind es, die nun vom Crash-Kurs bis hin zum Intensivkurs dem Mann das Wort Romantik beibringen. Beliebt sind auch Boot-Camps übers Wochenende oder Workshops, die man nach der Arbeit besuchen kann. Mann lernt in diesen Kursen, gegen horrende Gebühren versteht sich, dass Mundgeruch für den ersehnten ersten Kuss nicht unbedingt dienlich ist. Mann lernt, dass Frau es mag, wenn Mann ihr in den Mantel hilft, und all die vielen anderen umständlichen Dinge, die Frau in romantischen Liebesschnulzen oder bei Ausländern gesehen hat.

Am Ende ist Mann meist ein paar Hundert Euro ärmer und versucht, steif und unbeholfen das Erlernte umzusetzen. Die beruflich erfolgreiche Frau mit einem ausreichend finanziellen Polster muss auf einen solch trainierten Mann nicht warten. Sie kann für 57.000 RMB (umgerechnet rund 6.000 Euro) bei Lu Ye (路野, »lù yě«), dem Gott der Liebeslehrer in Shanghai, einen Kurs buchen. Innerhalb von 70 Tagen, so verspricht Lu Ye, wird Frau dann garantiert eine richtige Beziehung mit einem Mann haben.

Wie lange diese allerdings halten wird, steht in den Sternen. Die Scheidungsrate ist hoch. 39 Prozent aller Paare in Peking lassen sich innerhalb der ersten drei Jahre scheiden. Allein 2010 ließen sich in China knapp zwei Millionen Paare scheiden . Knapp 15 Prozent mehr als im Vorjahr. Damit steigt die Scheidungsrate in China schneller als das ebenfalls rasante Wirtschaftswachstum. Der Grund für die vielen Scheidungen ist ebenfalls bereits ausgemacht. Die heutigen Paare sind meist Einzelkinder. Sie haben es nie gelernt, Konflikten zu begegnen und diese gemeinsam zu meistern. Zudem profitieren sowohl Männer als auch Frauen vom wirtschaftlichen Aufschwung und können finanziell unabhängig sein. Der Weg zum Scheidungsrichter ist daher einfacher, als einen Konflikt zu lösen, zumal es kein Trennungsjahr gibt und eine Scheidung daher binnen Tagesfrist umgesetzt werden kann. Bis 2003 mussten Scheidungswillige in vielen Regionen Chinas erst von ihrem Arbeitsplatz oder Chef oder dem Nachbarschaftskomitee (居民委员会, »jūmín wěiyuánhùi«), also der Einwohnergemeinschaft (社区, »shèqū«) und zugleich niedrigste administrative Einheit in den Städten - in ländlichen Gebieten das Dorf (村, »cūn«),ein schriftliches Zertifikat einholen, bevor eine Scheidung möglich war.

Heute hat China erfolgreich das Image als »Werkbank der Welt« abgelegt und sich zu einer Industrienation entwickelt. Nun muss die Gesellschaft der Entwicklung nachziehen. Bis dahin hat das Land zwei boomende Dienstleistungsbereiche, die die kommenden Jahre prägen werden. Ein Bereich ist der Tourismus. Ein zweiter ist der Handel mit Träumen nach einer glücklichen und romantischen Ehe.

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Der Chinese an sich und im Allgemeinen - Alltagssinologie
Autor: Jo Schwarz
Preis: 9,95 Euro
Erschienen im Conbook Verlag, 299 Seiten
ISBN 978-3-943176-90-2